Luftfahrt Flug 005
Kurz nach 15 Uhr fragte Dr. Hermann Wulf, Arzt, General außer Diensten und Geschäftsführer der Hamburger Bedarfsfluggesellschaft »General Air«, am vorletzten Sonnabend telephonisch bei der Flugleitung des Helgoländer Dünen-Landeplatzes an: »Wie sieht's aus?« Der Ex-General erkundigte sich routinemäßig nach »Charile«, wie sein zweimotoriger Hochdecker vom Typ Twin Otter firmenintern genannt wurde, der gerade von Helgoland starten sollte.
Helgoland antwortete: »Alles picobello«. Wenig später meldete sich Helgoland erneut: »Charlie ist abgestürzt.«
Mit 13 Personen an Bord hatte sich die Maschine schon kurz nach dem Start aus etwa 60 Meter Hohe in den Dünenboden gebohrt. Sechs Insassen waren augenblicklich getötet worden, darunter die beiden Flugzeugführer, Kapitän Sepp Rumpfinger und Ko-Pilot Rolf-Dieter Bocker. Zwei weitere Teilnehmer am »General-Air«-Flug 005 starben später; der Zustand eines schwerverletzten Passagiers war noch am letzten Wochenende kritisch.
Noch Tage nach dem Desaster war die Absturzursache für Geschäftsführer Wulf und seine Piloten »völlig rätselhaft«. Bis dahin hatte die Firma nach 38 666 Flugstunden und 45 250 glücklichen Landungen im Seebäderdienst 305 600 Fluggäste befördert.
Seit 1968 hat »General Air« seine Flotte nacheinander um drei Twin Otter ergänzt. Übereinstimmend nannten »General-Air«-Chefpilot Alfred-Peter Jehle und sein gleichfalls als Kapitän fliegender Flugbetriebsleiter Burckhard Wölky das bewährte Vielzweckflugzeug »einen ausgesprochenen Selbstflieger"' der sich »bis in die extremsten Fluglagen noch gutmütig« verhalte.
Twin Otter »Charlie"' die nun vom Helgoländer Himmel fiel, war die älteste der drei von den Hamburger Bedarfsfliegern erworbenen Maschinen dieses Typs. Sie hatte -- anders als die »Sylt« und die mit Eiergrog getaufte »Helgoland« -- als einzige keinen offiziellen Namen.
Die Unglücksmaschine' deren Turboprop-Triebwerke erst vor kurzem turnusmäßig überholt worden waren, hatte einen normal verlaufenen Reiseflug Hamburg-Helgoland hinter sich und sollte nach Bremen fliegen. Die fliegerische Qualifikation der Piloten stand außer Zweifel. Wind- und Wetterverhältnisse waren günstig. Es war kühl. Das bedeutete: größere Luftdichte, stärkere Triebwerkleistung, besseren Auftrieb. Zudem war, wie Betriebsleiter Wölky erläuterte, »die Maschine weit unterladen«.
Aus dem Gewirr der Trümmer und dem Wust widersprüchlicher Augenzeugenberichte konnten die Beamten des Luftfahrt-Bundesamts (LBA) und andere Fachkundige zunächst nur eine unheimlich anmutende Parallelität zu dem Absturz einer Convair 440 der Lufthansa am 28. Januar 1966 in Bremen erkennen. Die Maschine, geisterhaft zufällig ebenso wie die jetzt verunglückte Twin Otter als »Flug 005« unterwegs, war bei einem sogenannten Fehlanflugverfahren nach dem Durchstarten in der Steigphase über die linke Fläche abgekippt und zerschellt (46 Tote).
Fast genau die gleiche Flugbewegung wurde nun auch bei der normal gestarteten Twin Otter vor Helgoland beobachtet: Nach steilem Steigflug, so Augenzeugen, habe die Maschine plötzlich »gewackelt« und sei dann in eine fatal enge Linkskurve übergegangen, als wolle der Pilot auf Umkehrkurs wieder die Piste erreichen. Tatsächlich prallte »Charlie«, auf einem parallel zur Landebahn liegenden Kurs abstürzend, etwa 200 Meter westlich der Piste in einem Winkel von 70 Grad in den Sand.
Die verhängnisvolle Kurve nach links aber, so mutmaßen Fachleute wie Jehle und Wölky, könne Pilot Rumpfinger unmöglich gewollt haben. Denn nach einem Start von der 450 Meter langen Helgoländer Nord-Nordwest-Piste (Kompaßkurs 330 Grad), so lautet die Instruktion der »General-Air«-Piloten, muß eine Rechtskurve geflogen werden. Jehle über das Abkippen nach links: »Der Kurs war ungesteuert, da haben die Piloten nichts mehr dran machen können.« Wölky: »Was die Leute für eine Linkskurve und den Versuch eines Rückflugs ansahen, war in Wahrheit schon der beginnende Absturz.« Mithin sei das Flugzeug in einen unkontrollierbaren Flugzustand geraten, aber warum?
Der Bremer Convair-Absturz, bei dem die Trümmer ausglühten, ist nie vollends geklärt worden. Die amtlichen Untersucher stellten nur fest, das Flugzeug müsse im Anschluß an den abgebrochenen Landeversuch beim Steigflug »in einen überzogenen Flugzustand geraten sein«, der zum Absturz führte.
Zwar hatte die abgestürzte Twin Otter keinen Flug-Schreiber (Flight data recorder) an Bord; auch wurde, weil auf so kleinen Landeplätzen unüblich, kein Sprechfunkverkehr auf Tonband gespeichert. Dennoch besteht Aussicht, die Absturzursache zweifelsfrei zu ermitteln. Da das Flugzeug nicht brannte, hoffen die Beamten, auch von den zertrümmerten Instrumenten noch den Flugzustand vor dem Aufschlag ablesen zu können: Die phosphorisierende Farbe auf der Rückseite der Instrumentenzeiger prägte sich beim Aufschlag auf das Zifferblatt -- durch ein langwieriges »Verfahren können die Zeigerstände rekonstruiert werden.
Da die linke Luftschraube erheblich weniger beschädigt war als die rechte, mutmaßen Fachleute überdies, das linke Triebwerk sei ausgefallen. Falls das so war, würde der rechte Motor die verhängnisvolle Linkskurve erzwungen haben -- aber nur dann, wenn zugleich weitere unglückliche Umstände eintraten, denn die Twin Otter bleibt auch mit nur einem Triebwerk voll flugtüchtig. »Ohne Zweifel«, so Wölky, »führte eine Verkettung mehrerer Umstände zum Absturz.«
Flugkapitän Max Brandenburg, Chef der LBA-Unfallabteilung, wollte keine Vermutungen anstellen, mit der Steuerung sei etwas nicht in Ordnung gewesen. Auf jeden Fall solle »die Steuerung sehr sorgfältig untersucht werden«.