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Aleksandar Vucic und Xi Jinping
Reuters/Marko Djurica
Serbien

Wahl im Schatten Vucics

Der Kampf gegen das Coronavirus läuft in Serbien trotz Lockerungen auf Hochtouren. Dennoch wählten die Serbinnen und Serben am Sonntag ein neues Parlament. 21 Parteien und Bündnisse standen auf dem längsten Stimmzettel der Republik seit Einführung des Mehrparteiensystems. Dabei hat einer, der gar nicht kandidiert, die Wahl bereits gewonnen.

Die Wahlbeteiligung dürfte den Umfragen zufolge bei etwa 48 Prozent liegen nach 56,7 Prozent 2016. Es war erwartet worden, dass viele der 6,6 Millionen Wahlberechtigten den Wahllokalen auch aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus fernbleiben. Das mäßige Interesse der Wahlbürger und Wahlbürgerinnen mag aber auch daran gelegen haben, dass niemand mit großen Überraschungen rechnete.

So ist das Scheinwerferlicht auch Sonntagabend auf Präsident Aleksandar Vucic gerichtet, dessen Partei ersten Hochrechnungen zufolge die Wahl haushoch gewann – wie im Vorfeld erwartet. Schließlich führte er den Wahlkampf praktisch in Eigenregie. Und das, obwohl er als Präsident eigentlich nur über beschränkte und vor allem repräsentative Befugnisse verfügt. Der Vorwurf, er mische sich kontinuierlich verfassungswidrig in Regierungsangelegenheiten ein, lässt ihn unbeeindruckt.

Freilich hat Vucics regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) einen Spitzenkandidaten: Er heißt Branislav Nedimovic, seines Zeichens Landwirtschaftsminister. Doch seine Strahlkraft wird bereits durch den Namen der Liste (sie heißt Aleksandar Vucic – für unsere Kinder) auf ein Minimum limitiert. Fix scheint, dass die SNS und ihr Juniorkoalitionspartner, die Sozialistische Partei (SPS), als deutliche Sieger aus der Wahl herausgehen und ihre Zweidrittelmehrheit halten.

Erfolg trotz „1 od 5 miliona“-Demos

Zwar wird seit 2018 landesweit gegen Vucics Machtausbau protestiert, die Bürgerbewegung „1 od 5 miliona“ (Dt.: „Eine von fünf Millionen“) hat innerhalb weniger Monate jede größere Stadt des Landes erreicht und ist selbst bei der Parlamentswahl mit einer gleichnamigen Liste vertreten. Die Bilder der Proteste aus Belgrad erinnern an die Bilder unmittelbar vor dem Fall des jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic, doch tun die regelmäßigen Demos Vucics Erfolg keinen Abbruch.

Straßenszene mit Spiegelung des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic
Reuters/Marko Djurica
Eine Frau mit Maske in Belgrad – gespiegelt auf einer Leuchtreklame mit Vucics Konterfei

Wahlkampf im Sinn von Duellen und Auseinandersetzungen gab es keinen, da einander nur die regierenden Parteien und einige Kleinparteien, die von der Regierung unterstützt werden, gegenüberstehen. Die wichtigsten Oppositionsparteien haben sich durch einen Boykott der Wahl selbst ausgeschlossen. Somit gehörte dem Nichtkandidaten Vucic die politische Bühne über Monate hinweg komplett allein – insbesondere aufgrund der Coronavirus-Krise.

Missverständnis mit Tradition

Die Kennzeichen von Vucics Rettung Serbiens vor dem Virus: tägliche öffentliche Auftritte, die Inszenierung als Krisenmanager, der Empfang von chinesischen Helfern und Abgesandten des Staatspräsidenten Xi Jinping per Ellbogencheck auf dem Flughafen, Übergaben von Beatmungsgeräten an Krankenhäuser, die Eröffnung von Gesundheitseinrichtungen. Kurzum: Die parlamentarische Republik wirkt auf viele Außenstehende wie ein Präsidialsystem.

Aleksandar Vucic begrüßt chinesische Ärzte
APA/AFP/Serbia’s Presidential press service/Dimitrije Goll
Vucic spielte die CoV-Gefahr zunächst herunter – nach seinem Sinneswandel freute er sich über großzügige Lieferungen aus China

Ein Missverständnis, das nicht erst im Zuge der Regentschaft Vucics aufkam, sondern schon während Milosevics Amtszeit. Beobachter kritisieren, dass die durch die Pandemie bewirkte „neue Normalität“ in Serbien einen noch autoritäreren Regierungsstil des Präsidenten gebracht hätte. Im jüngsten Bericht der US-Bürgerrechtsorganisation Freedom House wurde Serbien Anfang Mai als ein „hybrides Regime“ zwischen Demokratie und Autokratie bezeichnet.

Keine Spur von Geschlossenheit

Die führende Oppositionspartei Bund für Serbien (SZS), die laut Umfragen auf rund zehn Prozent kommt, rief bereits im Herbst zum „geschlossenen (Wahl-)Boykott der Opposition“ auf. Doch von diesem Wunsch ist man weit entfernt – nur drei Parteien folgten dem Aufruf. Auch präsentierte die Opposition kein klares Konzept für die Zeit nach dem Wahlboykott und ließ unbeantwortet, wie sie außerparlamentarisch ins Geschehen eingreifen möchte.

Der Boykottblock kritisiert, dass keine Bedingungen für faire und demokratische Wahlen bestehen. Kritikpunkte sind unter anderem veraltete Wählerverzeichnisse und fehlende Pressefreiheit. So sorgte die Verhaftung der Journalistin Ana Lalic während der Krise international für Schlagzeilen. Lalic, die einen Bericht über Missstände in einer Gesundheitseinrichtung für das Portal Nova.rs verfasste, wurde wegen des Vorwurfs der Verbreitung von Falschmeldungen und Schürens von Panik verhaftet.

Vucic weist zurück, die Presse zu unterminieren, und verweist auf die Existenz jener Medien, die die Regierungsarbeit kritisieren. Jedoch stellt sich Vucic diesen Medien nicht und schließt sie bei der Vergabe von Interviewterminen regelmäßig aus. Unabhängige Journalistinnen und Journalisten werden als Marionetten der Opposition verleumdet, ihre Berichte werden mit gegenteiligen Darstellungen in regierungsfreundlichen Medien überflutet.

Sender entfernt – Gegenangriff per Doku

So wurde etwa der unabhängige Sender N1 durch die Kabelanbieter Telekom und Posta NET aus dem Programm genommen, ob politisch motiviert, ist unklar. Für Ärger bei Vucic und seiner Gefolgschaft sorgte der Sender jedenfalls vor einigen Monaten, als die dreistündige Doku „Vladaocu“ (Dt.: „An den Herrscher“) ausgestrahlt wurde. Der Dokumentarfilm beschäftigt sich mit Vucics politischen Anfängen bei der Radikalen Partei von Vojislav Seselj, der Rolle, die er während der Kriege der 1990er Jahre einnahm, und seinem Kampf gegen die Medien – wie auch seinem fehlenden, versprochenen Kampf gegen Korruption.

Der Präsident reagierte auf den Film – Im Gegenzug ließ er einen eigenen Film drehen. Die Doku „Progon“ (Dt.: „Verfolgung“) wurde auf dem regierungsnahen Sender Pink TV ausgestrahlt. Der filmische Gegenangriff kritisiert hauptsächlich die Wortwahl jener Vucic-Kritiker, die in dem Film „Vladaocu“ zu Wort kommen. Inhaltlich wird kaum Stellung bezogen. Dieses Manöver ist ein Sittenbild von Vucics Umgang mit unabhängigen Medien.

Scheinopposition bewahrt

Doch wurde versucht, den Schein eines Mehrparteiensystems zu wahren. Unlängst wurde die Schwelle für den Einzug ins Parlament von fünf auf drei Prozent herabgesetzt. Mit einem neuerlichen Einzug rechnen kann die Radikale Partei (SRS) des wegen Kriegsverbrechen verurteilten Seselj. Chancen werden auch der Partei der Freien Bürger (SSG) und dem rechtspopulistischen Serbischen Patriotischen Bündnis (SPAS) zugerechnet. Alle drei Parteien gehören dem rechten Rand an und dürften die Dreiprozenthürde knapp überwinden.

Während der Viruskrise war selbst der ansonsten so unangreifbare Vucic vor breiterer Kritik nicht gefeit – sogar er selbst sprach in Anbetracht einer Entscheidung von einem „kapitalen Fehler“. Auslöser für die Selbstkritik war sein fragwürdiger Umgang mit der Diaspora, schließlich schloss Serbien als einziger Staat seine Grenzen auch für eigene Staatsbürger. Der Präsident nannte die Rückkehrer „verantwortungslos“ und gab ihnen die Schuld an der Ausbreitung des Virus im Land.

Protest der Opposition vor dem Präsidentensitz
Reuters/Marko Djurica
Protest der Opposition vor dem Präsidentensitz im Mai

Wahlkampfspot mit Mädchen verboten

Im Wahlkampf wandte sich Vucic erneut der Diaspora zu – der Tenor war dann auf einen Schlag ein ganz anderer: „Ich werde die Väter Serbiens zurückholen!“, gelobte er auf einmal. Zur Überbringung des Ansinnens sollte ein SNS-Wahlkampfspot dienen – dieser wurde mittlerweile verboten. Zu sehen ist eine Sechsjährige beim Lego-Spielen – Vucic nähert sich dem spielenden Mädchen und beginnt ein Gespräch über den Bau von Straßen bzw. Infrastruktur und die Förderung des Kindergarten- und Schulwesens.

In der Folge lenkt Vucic das Gespräch ins Familiäre und erhält auf Nachfrage die Auskunft, dass der Vater des Mädchens in Deutschland arbeitet. Gefolgt von der Frage: „Wie fändest du es, wenn ich einen konkreten Plan hätte, wie ich deinen Vater und alle Väter nach Serbien zurückholen würde?" Vucic macht dem Mädchen damit eine große Freude: „Das wäre mir das liebste auf dieser Welt!“, sagt sie. Verboten wurde der Spot aufgrund politischer Instrumentalisierung von Kindern.

Versprechen seit vielen Jahren

Im Spot verspricht Vucic das, was er den Bürgerinnen und Bürgern Serbiens schon seit vielen Jahren verspricht. Den Ausbau der Infrastruktur auf dem Land und das Schaffen neuer Arbeitsplätze, was Arbeiten im Ausland lieber früher als später nicht mehr notwendig machen soll. An diese Versprechen versucht sich Vucic zu halten – medienwirksam eröffnete er Fabriken, Autobahnen und die erste serbische Filiale des Diskonters Lidl.

Auch Straßen werden gebaut – und das wurde in der Hoffnung auf Mobilisierung von Wählerinnen und Wählern in Szene gesetzt: Vier Tage vor der Wahl kursierte ein Videomitschnitt von Asphaltierarbeiten in dem Ort Kukulovce in serbischen Medien. Auch ein SNS-Kommunalpolitiker ist auf den Video zu sehen – er fragt die Bürger, ob sie mit den Arbeiten zufrieden sind. Als diese bejahen ,sagt er: „Dann wisst ihr ja, für wen ihr stimmen sollt!“

Abwanderung als weiter drohendes Problem

Apropos „Väter zurückholen“: Etwa 1,8 der 6,6 Mio. Stimmberechtigten leben im Ausland und zeigen mehrheitlich kaum Interesse an der Wahl. Die kontinuierliche Massenabwanderung droht dem Land weiter zuzusetzen: Jeder Fünfte der übrigen knapp fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Serbiens würde das Land Umfragen zufolge gerne verlassen.

Vucics Politik hat zwar Arbeitsplätze geschaffen, aber die Lebensbedingungen weiter verschlechtert: etwa mit dem ambitionierten Bau von Fabriken – trotz der immer schlechter werdenden Luftqualität in Serbien. Sein Versprechen, die junge Generation von der Abwanderung abzuhalten, indem er Serbien zu einem attraktiveren Ort zum Leben macht, scheint nicht vereinbar mit seiner Bewerbung Serbiens als Ort der Fabriken und billigen Arbeitskräfte.

Fixstarter Kosovo

Stets Fixstarter in Wahlkämpfen seit der Milosevic-Ära ist die Kosovo-Frage. Die Regierung betrachtet den Kosovo trotz seiner 2008 erlangten Unabhängigkeit als serbische Provinz. Vucic hält an dieser Position fest. Gleichzeitig propagierte er den Weg in die EU, wobei er weiß, dass dieser Weg durch seine Kosovo-Politik blockiert wird – schließlich sieht die EU die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo als Bedingung. Im Wahlkampf zeigte sich wiederum Vucics Ausrichtung, wenn es um Stimmen geht – als er nämlich andeutete, auf eine EU-Mitgliedschaft verzichten zu können.

Zickzack im Umgang mit dem Virus

Ursprünglich sollte die Wahl am 26. April stattfinden, Anfang März sammelte Vucic noch Unterschriften für seine Partei und hielt Wahlkampfveranstaltungen ab. Nachdem das Coronavirus von regierungsnahen Experten wochenlang verharmlost wurde und Vucic sogar das Virus selbst für Wahlkampfzwecke missbrauchte, indem er öffentlich ein Glas serbischen Schnaps trank, um sich zu „immunisieren“, folgte schließlich eine Kehrtwende im Umgang mit der Pandemie.

Fußball-Cup-Halbfinale zwischen Clubs Partizan und Roter Stern
AP/Darko Vojinovic
Die Fans von Partizan am 10. Juni beim Belgrad-Derby gegen Roter Stern – keine Masken, kein Abstand

Der Ausnahmezustand wurde verhängt, die Wahl wurde verschoben und drastische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gesetzt. Ebenso drastisch werden die Maßnahmen derzeit zurückgefahren. Der Ausnahmezustand wurde aufgehoben, sogar Massenveranstaltungen waren auf einen Schlag wieder erlaubt: Augenscheinlichstes Beispiel war das Fußballcup-Halbfinale zwischen den beiden größten Belgrader Clubs Partizan und Roter Stern. 25.000 waren anwesend, das Stadion Partizana war praktisch voll – in Europa derzeit in dieser Form eine Ausnahme.

Vizeministerpräsident nimmt Bad in der Menge

Auch am Wahltermin wurde trotz des neuerlichen Anstiegs der Erkrankungen nach Lockerung der Maßnahmen festgehalten. Das chinesische Hilfsteam mahnte bei der Beendigung seines dreimonatigen Hilfseinsatzes zur Vorsicht und kam zum Schluss, dass die Bürgerinnen und Bürger die Angst vor der Pandemie verloren hätten. Ein augenscheinliches Beispiel lieferte jüngst ausgerechnet ein hoher Regierungspolitiker: Rasim Ljajic, stellvertretender Ministerpräsident Serbiens, sprang bei einer Wahlkampfveranstaltung ins Publikum und ließ sich durch die Masse tragen.

52 Tage Ausgangssperre für wichtigste Wählergruppe

Weniger freimütig konnten sich während des „Lock-down“ ausgerechnet jene Menschen geben, die zur wichtigsten SNS-Wählergruppe gehören: So war der Umgang mit Pensionistinnen und Pensionisten höchst kontrovers, insbesondere angesichts der jetzigen Massenaufläufe wirft das neue Fragen auf. Während des Ausnahmezustandes durften die über 65-Jährigen 52 Tage lang ihr Zuhause nicht verlassen. Nur einmal in der Woche durften sie – um 4.00 Uhr früh – einkaufen gehen.

Den folgenden Dankesbrief der Partei an die Zuhausegebliebenen bewerten Beobachter ebenfalls als Teil des Wahlkampfs – auch die Zahlung von 100 Euro an alle volljährigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wurden freilich als Geschenk Vucics kommuniziert. Am Sonntag kann sich der Präsident in den Wahlkabinen des Landes nun eine Gegenleistung dafür erwarten.